"Stuttgart"-Tatort
Darum geht es in "Der Mörder in mir"
18. September 2022, 18:13 Uhr aktualisiert am 18. September 2022, 18:13 Uhr
Mörder, das sind immer die anderen. Da wird geschossen oder ein Messer gezogen. Aber ein Mord mit dem eigenen Auto? Ein Mörder steckt theoretisch in jedem von uns, das will der neue Stuttgart-"Tatort" zeigen. Und der schweigende Zeuge der Fahrerflucht? Der auch?
Schon die ersten Bilder lassen keine Zweifel zu. Durch den prasselnden Regen schiebt das spätere Unfallopfer sein Fahrrad am Straßenrand entlang, vollgestopfte Plastiktüten hängen am Lenker. Wenige Momente noch, bis es vom gestressten Anwalt Ben Dellien bei seiner Tempofahrt durch das Dunkel der Nacht und bei grottenschlechter Sicht überfahren wird. Kurz steigt er aus, verharrt, dann ahnt er, was passiert ist. Das Grauen zeichnet sich in seinem Gesicht ab, er setzt sich zurück ans Steuer und gibt Gas, während sein Opfer im Straßengraben langsam verblutet.
Dort, wo vor 100 Jahren legendäre Autorennen rund um das Schloss Solitude die Massen an die Strecke lockten, bleibt heute nichts als "Elend" - der Name auf dem Ortsschild, das der Obdachlose kurz vor seinem Tod passiert, er ist Programm für die kommenden 90 Minuten im neuen Stuttgarter "Tatort".
Denn Elend begleitet auf die eine oder andere Weise auch die Protagonisten dieses Falls. Das sterbende Opfer, den Todesfahrer und seine Frau, den Kommissar in der Midlife-Crisis und die entscheidende Zeugin, die das eigene Schweigen, wenngleich zögernd, zum Vorteil nutzt. Ein Fall, der dem Ermittler-Team Lannert und Bootz die Grenzen aufzeigt und mit dem Zeigefinger auf den Zuschauer deutet. Wie würde man selbst entscheiden? Am Steuer. Als Mitwisserin. Als Zeuge. Und warum nicht anders?
Auch Dellien schwankt. Denn am Morgen nach dem Crash erfährt er, dass sein Opfer noch leben könnte, wäre ihm geholfen worden. Mehrfach will er sich in Reue stellen und seine fatale Fahrerflucht gestehen. Doch immer wieder drängt ihn seine hochschwangere Frau zu schweigen, um die Familie nicht zu zerstören.
Dellien (Nicholas Reinke) versucht, die Spuren zu verwischen, er inszeniert sogar einen Unfall mit seinem Wagen, damit das demolierte Auto auf dem Schrottplatz landet. Nicht gerechnet hat der Anwalt allerdings mit seiner entfernten Bekannten Laura Rensing (Tatiana Nekrasov). Sie arbeitet in einer Waschstraße, putzt nach dem Unfall sein Auto und findet eine Mütze im Kofferraum. Schon bald schöpft sie Verdacht, als sie dieselbe Kopfbedeckung im Zeitungsbericht über den Toten erkennt.
Natürlich ist Dellien kein Einzelfall, im Gegenteil. Im vergangenen Jahr haben laut Statistik mehr als 22.000 Menschen nach einem Unfall mit verletzten oder getöteten Menschen den Ort verlassen, ohne die Polizei zu rufen. Je schwerwiegender der Unfall mit Fahrerflucht ist, desto höher ist allerdings auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei den Verursacher ermittelt.
Auch der verdächtige Dellien spürt, wie Thorsten Lannert und Sebastian Bootz ihm immer mehr auf die Spur kommen. Aber ohne ein Geständnis oder eine Aussage der Zeugin stecken die Ermittler in einer Sackgasse fest. Rensing könnte helfen, aber sie zögert, sie will möglichst nicht in den Fall hineingezogen werden.
Wie würde ich entscheiden? Im "Tatort - Der Mörder in mir" konfrontiert Autor und Regisseur Niki Stein nicht nur die Ermittler, sondern auch die ARD-Zuschauer mit der Gewissensfrage. Denn die Flucht und das Schweigen, beides sind Straftaten - und beides belastet das Gewissen.
Elend, das beschreibt auch das Gefühl von Thorsten Lannert (Richy Müller) angesichts der emotionslosen Tochter des Opfers, die mit "Gut, Danke" auf die Todesnachricht reagiert. Und es passt gut zum Frust des Kollegen Sebastian Bootz (Felix Klare), der es so langsam satt hat in seinem Job. "Manchmal hab ich einfach keine Lust mehr", sagt er desillusioniert zum Kollegen. "Wofür machen wir das?" Bereitet das Drehbuch da etwa einen Abschied vor nach 29 gemeinsamen Fällen?
"Der Mörder in mir", das ist kein Fall, der vor Spannung und Dramatik knistert, kein Krimi mit kniffeliger Mördersuche, sondern der Versuch, Gesellschaftsdrama und Gewissensfalle zusammenzubringen. Das gelingt mit kleinen Schwächen. Warum zum Beispiel junge Kommissaranwärterinnen fast durch die Bank als etwas unbeholfen oder naiv dargestellt werden, das bleibt ein Geheimnis von "Tatort"-Regisseuren.