"Wären schnell im Himmel oben gewesen"
Jugendliche mit Handicaps setzen sich mit dem Thema Nationalsozialismus auseinander
5. August 2014, 11:42 Uhr aktualisiert am 5. August 2014, 11:42 Uhr
"Wenn wir damals gelebt hätten, wären wir schnell im Himmel oben gewesen." - Sebastian fällt es nicht leicht, das zu sagen. Mit "wir" meint er sich und alle anderen Kinder mit Behinderungen. Mit "damals" meint er die Zeit des Nationalsozialismus. Der aufgeweckte junge Mann denkt oft an das zurück, was er bei seiner Fahrt nach Günzburg erfahren hat - eine Stadt, die aus zweierlei Hinsicht bekannt ist. Zum einen, weil dort das einzige Denkmal in Deutschland zu Ehren des jüdisch-polnischen Waisenhausdirektors Janusz Korczak steht. Zum anderen, weil es der Geburtsort des Arztes Josef Mengele ist, der im Konzentrationslager Auschwitz grausame medizinische Experimente an Häftlingen durchgeführt hat.
Schon das ganze Jahr über beschäftigen sich die Kinder und Jugendlichen, die in Straubing im Nardiniheim der Bildungsstätte St. Wolfgang wohnen, im Rahmen des lokalen Aktionsplans "Wir sind Straubing" mit dem Thema Nationalsozialismus und im Speziellen mit der Pädagogik von Janusz Korczak. Korczak, der von 1878 bis 1942 gelebt hat, war Arzt, Schriftsteller und Pädagoge. Er lebte in Warschau. Nach seinem Medizinstudium eröffnete er dort das Waisenhaus "Dom Sierot". Mit seinen fortschrittlichen Methoden - zum Beispiel führte er ein Kinderparlament und eine Kinderzeitung ein - gilt er bis heute als Vorreiter in Sachen Kinderrechte.
Nach der Besetzung Polens durch die Nationalsozialisten musste Korczak 1940 mit seinen Waisenhauskindern ins Getto übersiedeln. Von dort aus wurde er im August 1942 zusammen mit Mitarbeitern und über 200 Kindern ins Vernichtungslager Treblinka gebracht und ermordet. Korczak hatte mehrere Angebote zu seiner persönlichen Rettung erhalten, lehnte diese aber ab, weil er die Kinder nicht im Stich lassen wollte.
Vom Leben im Waisenhaus
Die Kinder und Jugendlichen des Nardiniheims sind im Laufe des Schuljahres durch Filme, Vorträge und Bücher wahre "Korczak-Experten" geworden, beschreibt Hauptorganisatorin Iwona Roszkowski, Leiterin der Gruppe Don Bosco, die Entwicklung. "Unser Ziel war, dass sich die Kinder mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen und das Leben in dieser Zeit kennenlernen." Mit den Geschichten um den "alten Doktor" Korczak - so wurde er von den Waisenhauskindern genannt - könne dies erreicht werden, da sich die Kinder damit sehr gut identifizieren können, ist sie überzeugt. Das Thema sei auch keineswegs zu anspruchsvoll: "Unsere Kinder sind trotz ihrer geistigen Behinderung sehr fit und vor allem wissbegierig."
Umso mehr hat sie sich über die Einladung von Siegfried Steiger, dem Ehrenvorsitzenden der Korczak-Gesellschaft gefreut, zusammen mit den Jugendlichen nach Günzburg zu kommen, um sich dort das einzige Korczak-Denkmal Deutschlands anzuschauen. Das Denkmal zeigt Korczak inmitten einer Schar von Kindern, über die er schützend seine Arme ausbreitet und die sich offensichtlich geborgen und sicher bei ihm fühlen. In den drei Gassen, die zum Denkmal führen, ist je eine Gedenktafel mit einem Zitat Korczaks angebracht, so zum Beispiel "Das Kind ist nicht dumm; es gibt unter den Kindern nicht mehr Dummköpfe als unter den Erwachsenen".
Im krassen Gegensatz zur fröhlichen Pädagogik Korczaks stehen die Gräueltaten des KZ-Arztes Josef Mengele, der in Günzburg geboren wurde. Auch damit setzten sich die neun Jugendlichen und ihre Betreuer bei ihrem Tagesausflug nach Günzburg auseinander.
Tief bewegt standen sie vor dem Mahnmal, das an die Opfer Mengeles erinnert. Bei dem Mahnmal, das Schüler der beiden Günzburger Gymnasien gestaltet hatten, handelt es sich um eine Texttafel, um die herum sich in Bronze gegossene einzelne Augen und Augenpaare gruppieren, die den Betrachter verwirrt, todtraurig oder entsetzt ansehen.
Die Augen sollen an Mengeles grausame medizinische Experimente an Häftlingen erinnern, auch solchen an den Augen. Mengeles Opfer waren Juden, Sinti und Roma. Die Inschrift, die die Augen umgibt und von dem KZ-Überlebenden Jean Améry stammt, spricht für sich: "Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten. Man soll und kann die Vergangenheit nicht auf sich beruhen lassen, weil sie sonst auferstehen und zu neuer Gegenwart werden könnte."