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Die Geschichte von Hildegard, dem wilden Huhn


Hildegard erkundet die Welt.

Hildegard erkundet die Welt.

Von Lena Leitermann

Ein Tier sticht immer aus der Herde. Egal, ob es die randalierende Kuh ist, die jeden Pfosten des Weidezauns niederdrückt, um ihre Kolleginnen in die Freiheit zu entlassen, oder ob der sture Ziegenbock, der sich trotz Anschiebversuche keinen Millimeter bewegen möchte.

So steht es auch um Hildegard, ein stolzes und weises Huhn, das seinesgleichen sucht. Alleine im Garten eines älteren Ehepaars aufgewachsen, sollte sie eigentlich Eier legen. Doch sie legt keine Eier, sie hat auch nicht den Willen, irgendwann Eier zu legen. Als das Ehepaar Hildegards letzte Tage kommen sieht, packt das Huhn seine wenigen Habseligkeiten, bestehend aus einem kleinen, bunt gefleckten Kinderschal, einem weißen Hut und einem Paar hellbraunen Schlappen.

So hätte sie sich die Welt draußen nicht vorgestellt

Frühmorgens, als hätte sie die Henkersdrohung auf ihren Schultern gespürt, prescht sie mit voller Wucht durch eine Zaunlücke und findet sich auf einen Bürgersteig wieder. Verwirrt blickt sie um sich, denn so hätte sie sich die Welt draußen nicht vorgestellt. Alles grau, voller Häuser, viele Autos fahren an ihr vorbei, der Wind weht durch ihr Gefieder. Gut, dass sie einen Schal um hat. Sie schreitet vom Bürgersteig in ein nahe gelegenes Siedlungsgebiet. Als Hildegard ein Hungergefühl beschleicht, sieht sie sich nach Futter um. Für ein Huhn ist sie sicherlich nicht dumm, weiß sie doch genau, was sie will. Nahrung, Freiheit und ein unbeschwertes Leben. Auf der Suche nach ein paar Schnecken wird sie nicht nur fündig, sie kommt sogar in die Nähe eines Gartens, in dem frische Salatköpfe ein Beet zieren. Hildegard umrundet den Zaun, um ein Schlupfloch zu finden. Nach einer Weile wird sie fündig und spannt ihren Bauch an, um sich durch den kleinen Spalt zu zwängen. Daraufhin eilt sie zu den saftigen, opulenten, grünen Salatköpfen. Hildegard fühlt sich wie im Schlaraffenland. Ein richtiges Chaos entsteht. Die Salatköpfe werden in die kleinsten Einzelteile zerlegt. Was einst ein üppiges Grün war, ist jetzt ein grünes Geschnetzeltes. Eine Festmahlzeit für das wilde Huhn. Als sie satt gefressen ist, macht sie sich auf den Rückweg. Allerdings passt sie nun nicht mehr durch die Zaunlatten, einen anderen Ausweg gibt es leider nicht.

Um nicht von den Besitzern des Beets entdeckt zu werden, versteckt sich Hildegard hinter einem Busch. Als immer mehr Zeit vergeht, schließt sie vor Müdigkeit ihre Augen. So vollgefressen, wie sie gerade ist, kann sie sich auch nicht mehr wachhalten. Nach einer Zeit weckt Hildegard ein Aufschrei einer älteren Dame. Wild fuchtelnd beschwert sie sich über das Massaker ihrer lieben Salatköpfe. Allerdings hat die Frau die Gartentür weit offengelassen, sodass Hildegard ihren Fluchtweg schon im Blick hat. Mit aller Kraft macht sie sich zum Sprint ihres Lebens bereit. Wie ein Blitz schießt sie los, mitten durch die Beine des Ehemanns hindurch. Die Ehefrau blickt erschrocken und wütend in ihre Richtung, verflucht das dumme Huhn wegen dem, was es den Salatköpfen angetan hat.

Obwohl ihr winziges Herz noch wie wild schlägt, schreitet Hildegard auf dem Gehweg mit aller Seelenruhe weiter durch die Ortschaft. Dabei hat sie immer ihre Umgebung im Blick, schließlich will sie hundertprozentig nicht im Kochtopf landen. Das würde ihr gar nicht passen. Sie hat ja noch so viel vor. Am liebsten würde sie die Welt bereisen, aber wie? Zunächst sucht sich das wild gemusterte Huhn eine Ruhestätte für die Nacht.

Plötzlich umgreifen sie Hände von hinten

Die Sonne begrüßt die Erde mit ihren sanften Sonnenstrahlen und schenkt der Schöpfung neue Lebensfreude. Die Henne macht sich weiter auf ihren Weg, sucht nach Nahrung, um ihren leeren Magen zu füllen. Als sie gerade ein paar Schnecken am Wegesrand findet, parkt ein älterer Biker sein Motorrad neben ihr, um in der Bäckerei sein Frühstück einzukaufen. Neugierig blickt sich Hildegard um, hat sie doch noch nie ein Motorrad gesehen, vor allem der Begleitwagen ist interessant für sie. So flattert sie hinein und macht es sich auf dem weichen Stoff bequem. Interessiert an dem schwarzen Material, pickt Hildegard darauf ein, allerdings hört sie bald wieder auf. Nicht nur, weil der Stoff bitter schmeckt, sondern auch, weil sie plötzlich Hände von hinten umgreifen. Nein, sie hatte doch noch so viel vor! "Na, was haben wir denn da? Ein Huhn. Was soll ich nur mit dir tun? Vielleicht gehörst du ja einem Anlieger hier."

Der Motorradfahrer fragt in den nächstgelegenen Häusern nach, doch entweder antwortet keiner oder sie verneinen. So entschließt sich der Biker, das Huhn einfach mitzunehmen. So machen sie sich auf den Weg, entdecken neue Orte, bleiben einige Zeit in gewissen Gegenden, gelegentlich sucht der Biker Arbeit, dann fahren sie wieder weiter. Auf diesem Weg entwickelte sich eine wunderbare Freundschaft zwischen Mensch und Tier.

Hinweis: Dieser Text stammt aus der Freistunde, der Kinder-, Jugend- und Schulredaktion der Mediengruppe Attenkofer. Für die Freistunde schreiben auch LeserInnen, die Freischreiben-AutorInnen. Mehr zur Freistunde unter freistunde.bayern.