400. Ausgabe der Freistunde

Die Euromaidan-Revolution war ein Wendepunkt für die Ukraine

Ein persönlicher Blick auf die Euromaidan-Revolution in der Ukraine vor zehn Jahren. Und welche Verbindungen man zum Schicksal des Landes heute ziehen kann.


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Seit meiner frühesten Kindheit nehme ich an den Sorgen, Freuden und Geschehnissen in der Ukraine teil. Vor allem durch Besuche bei Verwandten und Bekannten – unter anderem in Kiew, den Karpaten, Odessa, Orten auf der Krim-Halbinsel und Grenzgebieten zu Russland. Aber die Tragweite mancher Ereignisse war mir früher noch nicht bewusst. Denn ich wuchs in Deutschland mit der Tatsache auf, dass Stabilität, Unabhängigkeit und Frieden selbstverständlich sind.

Dass die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991 erst jahrelang die mentale Nabelschnur zur ehemaligen Sowjetunion durchtrennen musste, schien mir unbegreifbar. Erst als ich mich genauer mit der Geschichte, den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten beschäftigte und viele Gespräche mit Einheimischen führte, bekam ich ein Verständnis davon. Und mir wurde klar: Der Weg der Loslösung wird vom großen Nachbarn seit jeher mit Unmut gesehen.

Bei der Euromaidan-Revolution setzten sich viele Ukrainer auf dem Kiewer Maidan-Platz für Bürgerrechte, Demokratie und gegen Korruption ein. Diese Demonstration war Russland ein Dorn im Auge. Der Funke der Rebellion sollte nicht auf die eigene Bevölkerung überspringen.

Russland hat den verletzbaren Moment brutal ausgenutzt

Mir wurde damit schmerzhaft bewusst: Manche Wünsche sind teuer. Dieser Ruf nach einem Land frei von Korruption, den die Menschen in Kiew kundtaten, war so einer. Und solche Wünsche lassen leider viele Opfer zurück, zu viele. Denn die Sicherheitskräfte gingen brutal gegen die Demonstranten vor, je länger der Protest ging.

Zugleich hat Russland den instabilen Moment des kleinen Nachbarn nicht verstreichen lassen. Noch während das Land mit den Veränderungen beschäftigt war, hat es mit der Annexion der Krim einen Krieg begonnen, der Wurzeln bis in die Gegenwart schlägt. Das Land brüllt wie ein verwundetes Tier, das von dem Kriegsbeil des ehemaligen Brudervolkes hart getroffen wird.

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Eine befreite Gesellschaft? Mehr als nur eine Idee

Wer mit Menschen vor Ort spricht, dem wird klar, dass 2014 das größte Bestreben darin lag, ein Leben in Freiheit für das Land zu gestalten. Die Revolution sollte ein Befreiungsschlag sein. Ein Wendepunkt für das Land.

Die Idee einer befreiten Gesellschaft, die damals geboren wurde, scheint mir keine Utopie. Es war der Aufschrei eines Volkes, das genug hat von den Zuständen im Land. Das sich abwenden wollte von hochkorrupten Strukturen und das sich zugleich im Krieg gegen Russland jeglichen kommunistischen Strömungen entziehen wollte. So auch heute.

Der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg ist ein Widerstand gegen den sowjetischen Gedanken. Eine Flucht vor den kommunistischen Krallen, die Putins Russland bei der eigenen Bevölkerung ausfährt. Denn das flächenmäßig größte Land der Erde strebt erschreckenderweise wieder den menschenverachtenden Zuständen nach, die überwunden schienen. Da scheint es mehr als einleuchtend, dass sich die Ukraine mit der Idee nach Freiheit verbrüdern will. Und so denke ich auch heute noch an diese Atmosphäre, die mich im August 2014 am Maidan-Platz in Kiew erfüllte.

Graue Wolken zogen über Kiew und betonten mit ihrer Farbe, welch traurige Ereignisse sich hier ereignet haben. Unzählige Fotos von Opfern der Polizeigewalt blickten mich stumm an. Die Forderung nach Gerechtigkeit und Wahrheit hatte diese Menschen den größten Preis zahlen lassen.

Gedenken an die Revolution, mitten in Kiew

Doch die Tatsache, dass aus einem belebten Platz eine Gedenkstätte gemacht wurde, ist mir ein Trost. Oft befinden sich diese an abgelegenen Orten. Doch hierhin begeben sich täglich unzählige Menschen und werden unaufhörlich an den Mut der Menschen erinnert.

Diese Aufopferungsbereitschaft, die sich einst im Zentrum Kiews zeigte, hat sich nun an die Front verschoben, verliert aber immer mehr an Kraft. Von mehreren Seiten in der Ukraine habe ich nun schon die Fragen vernommen: Möchte Europa dasselbe Schicksal? Ist es sich nicht bewusst, dass Russland den größten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg begonnen hat? Dass dieser Krieg sich ausweiten kann? Ist es zu nah am Geschehen dran, um nicht das große Ganze zu sehen? Es geht weiter ums Äußerste. Für die Ukraine und Europa.

Dieser Artikel ist Teil der 400. Freistunde-Ausgabe zum Thema „Wendepunkte“.

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