400. Ausgabe der Freistunde

Die Annäherung zweier Menschen als Wendepunkt: Kurzgeschichte Seelenwächter


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– 1. April –

Liebes Tagebuch,

heute hat der Frühling seinen Atem in jeder Ecke von Minato eingebracht, die Kirschblüten fallen sanft wie Schneeflocken, und doch fühlt sich alles anders an. Yume und ich waren nach der Schule auf dem Weg nach Hause, als sie ihn zuerst bemerkte – einen kleinen, schwarzen Kater, der sich verängstigt in unserer Straße verkrochen hatte.

Yume hat keine Sekunde gezögert. Sie ging auf die Knie und streckte ihre Hände aus. Der Kater schmiegte sich an ihre Handfläche, als könnte er die Wärme ihres Herzens durch ihre Haut fühlen. Wir beschlossen, ihn mit nach Hause zu nehmen, nur für eine Nacht. Yume gab ihm den Namen „Sora“, „Himmel“, denn seine Augen schienen Sterne zu spiegeln, die nicht von dieser Welt waren.

Kaum hatten wir Sora in Yumes Zimmer gebracht, begannen Dinge zu geschehen, die ich nicht erklären kann. Ein Windstoß ließ die Fensterläden knarzen, obwohl die Luft draußen still war. Ein Flüstern, kaum hörbar, wie eine ferne Melodie, wehte durch das Zimmer, als Sora uns mit seinen unergründlichen Augen ansah.

Ich schreibe diese Worte, und meine Hand zittert leicht. Ich frage mich, ob es die Kühle des Abends ist oder die Angst vor dem Unbekannten. Yume hingegen scheint begeistert, ihr Lachen klingt heller, und ihre Augen leuchten vor Aufregung. Es ist, als hätte sie auf diesen Moment gewartet, als wäre all ihre Vorliebe für das Übernatürliche eine Vorbereitung auf diesen einen Tag.

Ich kann nicht schlafen, Tagebuch. Ich habe Sora in eine Decke gewickelt, er liegt jetzt neben mir, sein gleichmäßiges Schnurren ist beruhigend und doch fremd.

Irgendetwas hat begonnen, etwas Neues, etwas Altes, etwas, das möglicherweise schon immer da war und nur darauf gewartet hat, durch einen streunenden Kater in unsere Welt zu treten. Ich spüre es und ich weiß, Yume spürt es auch. Wir stehen an der Schwelle zu einem Geheimnis, das wir noch nicht fassen können.

– Akari

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– 2. April –

Liebes Tagebuch,

die Welt fühlt sich heute verändert an, als hätte die Nacht eine neue Schicht auf die Realität gemalt. Sora ist noch hier, und mit jedem Moment, den der Kater in unserer Gegenwart verbringt, vermischen sich die Grenzen zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen.

Yume hat den Morgen mit Sora gesprochen, als könnte sie seine stummen Antworten verstehen. Sie hat ihre Bücher über Mythen hervorgeholt, und ihre Finger fliegen über die Seiten, auf der Suche nach einer Erklärung für das, was wir erleben.

Die Dinge in Yumes Haus scheinen ihren eigenen Willen zu haben. Ein Foto von uns, das auf dem Kaminsims stand, wurde am Morgen auf der anderen Seite des Zimmers gefunden, der Rahmen sorgfältig auf den Boden gestellt, als ob es bewusst dorthin gelegt worden wäre. Sora saß daneben und es war unmöglich, nicht zu fühlen, dass er irgendetwas damit zu tun hatte.

Yume hat eine Theorie: dass Sora ein Tsukimono ist, ein Geistwesen, das in unserem Volksglauben oft als Familienbeschützer oder als trickreicher Geist auftritt. Sie glaubt, dass wir ausgewählt wurden, für etwas, das sie selbst nicht genau definieren kann.

Und dann gibt es da noch die Schatten. Sie flackern an den Rändern unserer Sicht. Es ist ein Spiel von Licht und Dunkelheit, das mir Unbehagen bereitet. Ich habe versucht, es Yume zu erklären, aber sie scheint alles durch einen Schleier der Faszination zu sehen.

Ich habe Yume gefragt, ob sie Angst hat. Sie sagte: „Angst? Nein, Akari, das ist Aufregung. Das Universum hat uns eine Tür gezeigt. Hast du nicht auch den Drang, hindurchzugehen und zu sehen, was auf der anderen Seite ist?“ Ich wünschte, ich könnte ihre Begeisterung teilen, Tagebuch, aber ich fürchte mich vor Türen, die sich nicht mehr schließen lassen.

Sora beobachtet uns die ganze Zeit, seine Präsenz ist still und doch unausweichlich. Yume ist bereit, ihm zu folgen, wohin auch immer er uns führen mag. Ich weiß nicht, ob ich die gleiche Kraft in mir finde, aber ich weiß, dass ich Yume nicht alleine lassen kann.

Es ist spät jetzt. Ich spüre, dass wir an der Schwelle zu einer Offenbarung stehen, und ich halte meine Angst im Zaum, denn morgen könnte der Tag sein, an dem sich alles verändert.

– Akari

– 3. April –

Liebes Tagebuch,

der heutige Abend hat die Wahrheit ans Licht gebracht, so klar wie der Vollmond am Nachthimmel. Es ist spät, und die Ereignisse des Tages liegen schwer in der Luft.

Yume und ich standen am Strand, die Füße im Sand, als der Tag in die Nacht überging. Sora, der geheimnisvolle Kater, saß regungslos und beobachtete die aufgewühlten Wellen. Dann geschah das Unfassbare: Sora sprach.

Seine Stimme war eine Symphonie des Meeresrauschens, des Windes und der flüsternden Blätter. Er erzählte uns von Seelen, die durch die Jahrhunderte gewandert sind, von Schicksalsfäden, die sich um die Konstellationen des Universums winden. Er sprach von Liebe, die älter ist als Zeit und Raum, einer Liebe, die Yume und mich durch unsere Leben hindurch verfolgt hat.

Ich stand da, mit Tränen, die sich ihren Weg bahnten, nicht aus Trauer, sondern aus einer Art Erkenntnis. Yume nahm meine Hand, und ich konnte die Stärke ihres Griffs fühlen, als wollte sie sagen, dass sie immer wusste, dass es mehr zwischen uns gibt, als wir zu verstehen vermochten. Sora offenbarte, dass unsere Begegnung vorbestimmt war. Der Wendepunkt, vor dem wir standen, war eine Einladung in das große Unbekannte.

Yume sah mich an. Ohne ein Wort zu sagen, verstanden wir beide, dass es keine Rückkehr zu dem Leben gab, das wir kannten. Wir mussten eine Wahl treffen: das Gewohnte zurücklassen oder in eine Zukunft eintreten, die wir uns nicht einmal erträumt hatten.

Ich fühlte, wie der Sand unter meinen Füßen nachgab, als wäre er bereit, uns aufzunehmen und in die Tiefe zu tragen. Yume zog mich näher, und in diesem Moment wusste ich, dass wir springen würden. Zusammen, so unerschrocken, wie nur Liebe uns machen kann.

Liebes Tagebuch, ich lege dich jetzt nieder, vielleicht für das letzte Mal. Denn wenn der Morgen kommt, werden Yume und ich vielleicht nicht mehr hier sein, zumindest nicht so, wie wir es einmal waren. Wir schlagen ein neues Kapitel auf, eines, das über die Seiten dieses Buches hinausgeht. Wir treten ein in eine Welt, die Sora uns gezeigt hat, getragen von unserem Mut und der Gewissheit unserer verbundenen Seelen.

– Akari

Dieser Artikel ist Teil der 400. Freistunde-Ausgabe zum Thema „Wendepunkte“.

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