Epilepsie
Diagnose Epilepsie: Ein klarer Verlust von Freiheit?
21. November 2018, 13:26 Uhr aktualisiert am 21. November 2018, 13:26 Uhr
Gerade noch sitzt der kleine Junge fröhlich brabbelnd mit seinen Freunden an einem der runden Tische im Kindergarten. Lachend beißt er in sein Brötchen und kaut auf einem Stück herum. Er beginnt zu husten. Die Kinder am Tisch und die Erzieherinnen meinen im ersten Moment, er habe sich nur verschluckt. Doch er hört nicht mehr auf zu husten. Er rutscht vom Stuhl. Röchelnd liegt er auf dem Boden und ringt nach Luft. Das Weiße in den Augen ist zu sehen. Sein ganzer Körper fängt an zu zucken. Minutenlang. Die Erzieherinnen stehen geschockt daneben. Der Junge hat Epilepsie. Die beiden Frauen wissen nichts davon.
"Bedauerlich, wie Eltern es verheimlichen können, wenn ihre Kinder an Epilepsie erkrankt sind", sagt Elisabeth Staber-Melzig, Diplom-Sozialpädagogin und verantwortlich für die Außenstelle der Epilepsie-Beratung am Kinderkrankenhaus Sankt Marien in Landshut. Erzieherinnen begleiten die Kinder über Jahre hinweg als Aufsichtspersonen. Hätten die beiden Frauen in diesem Fall Bescheid gewusst, hätten sie viel schneller und vor allem mit dem richtigen Medikament reagieren können.
Staber-Melzig fährt neben ihren Sprechstunden an der Beratungsstelle in Krippen, Kindergärten, Schulen und Firmen, um die Mitarbeiter im Umgang mit Epilepsie-Patienten zu schulen, wenn es dort betroffene Kinder oder Kollegen gibt. Vor allem möchte sie aber eines: Aufklärung. "Über Epilepsie wird in der Öffentlichkeit immer noch zu wenig gesprochen." Dabei ist sie die häufigste neurologische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Ein Prozent aller Menschen erkrankt an Epilepsie.
Epilepsie ist nicht vererbbar
"Epilepsie ist im klassischen Sinne keine Erbkrankheit. Jeder Mensch kann davon betroffen sein", sagt Dr. med. Christian Blank, Leitender Arzt des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) am Kinderkrankenhaus Sankt Marien. Dennoch spielten genetische Faktoren bei einigen Epilepsieformen eine Rolle.
Der Facharzt arbeitet seit 25 Jahren im SPZ und hat schon viele Formen der Epilepsie gesehen. Jeder Patient habe andere Lebensumstände, auf die er und sein Team die Therapie individuell einstellen müssen.
Bei Kleinkindern und Kindern im Grundschulalter äußern sich Epilepsien oft in sogenannten Absencen. Der Mensch ist meist für ein paar Sekunden geistig weggetreten und Lider sowie Mundwinkel beginnen unkontrolliert zu zucken. In der Schule kann sich dies in Konzentrationsstörungen zeigen und die Kinder werden daraufhin in einer Klinik durchgecheckt. "Absence-Epilepsien können wir anhand eines EEGs diagnostizieren. (Anm. d. Red.: EEG steht für Elektroenzephalogramm. Damit werden in der Medizin elektrische Ströme im Gehirn gemessen und grafisch dargestellt.) Andere idiopathische Epilepsien, bei denen es zu Krampfanfällen kommt, ermitteln wir über ein EEG, eine Kernspintomographie sowie eine genaue Anfallsbeobachtung. Grundsätzlich spricht man daher erst nach dem zweiten Anfall innerhalb weniger Monate von der Krankheit Epilepsie."
Kein Knochenbruch, den Ärzte heilen können
Generell könne man viele Formen mit Medikamenten so gut behandeln, dass die Patienten in der Regel anfallsfrei werden. "Epilepsie ist allerdings keine Krankheit, die wir heilen können. Ziel ist es den Patienten ein 'anfallsfreies Leben' mit möglichst wenig oder gar keinen Einschränkungen zu ermöglichen, indem sie lernen mit ihrer Krankheit umzugehen", erklärt Blank weiter. Dennoch kennen er und Staber-Melzig auch Fälle, die als nicht therapierbar gelten. Bei etwa 20 bis 30 Prozent aller Patienten schlage keines der Medikamente über einen längeren Zeitraum hinweg an, so dass die Menschen nie komplett anfallsfrei werden.
Wichtig für Jugendliche: Mit Epilepsie ist vieles möglich
Staber-Melzig geht zu einem Holzregal, nimmt einen Flyer mit der Aufschrift "Mit Epilepsie ist vieles möglich" heraus und setzt sich wieder an den Tisch in ihrem kleinen Beratungszimmer. Diesen Satz gebe sie allen Ratsuchenden mit auf den Weg. "Menschen, die die Diagnose Epilepsie erhalten, zieht es erst einmal den Boden unter den Füßen weg", weiß sie aus Erfahrung. Gerade bei Jugendlichen sei die Diagnose immer sehr einschneidend. Mit Freunden in einer Kneipe ein Bier trinken, Nächte durchtanzen, den Führerschein machen - das alles kommt für diese jungen Leute erst einmal nur eingeschränkt in Frage. Mehr als andere Jungen und Mädchen in ihrem Alter müssen sie auf ihre Gesundheit achten und Verantwortung dafür übernehmen.
Um den Führerschein machen zu dürfen, müssen Menschen mit Epilepsie ein medizinisches Gutachten vorlegen, das besagt, dass sie mindestens ein Jahr anfallsfrei sind. "Alkohol und Schlafentzug wiederum begünstigen die epileptischen Anfälle und sind daher auch erst einmal zu vermeiden", sagt die Sozialpädagogin. Menschen, die im Kleinkindalter die Diagnose erhalten, hätten ihrer Erfahrung nach mehr Zeit, in die Situation hineinzuwachsen. Die Eltern übernehmen in den ersten Jahren die Verantwortung.
Für einen 16-Jährigen, der gerade selbst die Weichen für sein späteres Leben stellt, bedeutet diese Krankheit oft einen regelrechten Verlust seiner Freiheit. "Die Diagnose wirft die jungen Menschen total aus der Bahn." Dies sagt auch Blank, als er durch die Räume des SPZ führt. Er bleibt vor einer Tür mit dem Schild "Psychotherapie - Bitte nicht stören" stehen. Patienten, die sich nach der Diagnose Epilepsie jemandem anvertrauen möchten oder mit der Krankheitsbewältigung nicht zurecht kommen, finden hier Psychologen, die ihnen Halt geben.
Im SPZ sowie im Kinderkrankenhaus Sankt Marien werden Kinder und Jugendliche bis zur Volljährigkeit medizinisch versorgt und behandelt. Logopäden, Psycho- und Physiotherapeuten sowie Mediziner und Krankenschwestern aus dem Bereich Kinderneurologie versorgen die Patienten. Im SPZ werden die Kinder und Jugendlichen nur ambulant behandelt. Da epileptische Anfälle häufig nachts auftreten, gibt es seit 2016 im Kinderkrankenhaus ein Schlaflabor, in dem die Patienten auch über Nacht beobachtet werden können.
"Nach der Diagnose treten bei Eltern natürlich Ängste auf", erzählt der Facharzt bei einem Rundgang. Dennoch sei es wichtig, den Kindern ein Gefühl von Normalität zu geben. "Wie soll man einem achtjährigen Mädchen erklären, dass es als einzige in der Klasse nicht am Schwimmunterricht teilnehmen darf?" Hier plädiert der Mediziner dafür, den Kindern mit gezielten Vorsichtsmaßnahmen das Schwimmen beizubringen, da die Teilhabe an Spiel, Spaß und Sport mit den Gleichaltrigen sehr wichtig sei und die Kinder nicht stigmatisiert werden dürften. Im Schwimmunterricht sei es Voraussetzung, dass sich eine Aufsichtsperson nur auf das epilepsiekranke Kind konzentriere, um es im Notfall sofort aus dem Wasser zu ziehen. Große Höhen im Sportunterricht seien ebenfalls tabu. Geht allerdings die Familie von Anfang an offen mit der Krankheit um, wachsen die Kinder in ihr teilweise eingeschränktes Leben hinein. "Ich kenne Kinder, die selbstbewusst mit ihren Freunden über das Thema reden." Genau das ist es, was der Arzt und seine Kollegen erreichen möchten: "Wir können Epilepsie nicht heilen wie einen Knochenbruch. Aber wir bereiten die Jugendlichen vor, trotz der Erkrankung einen möglichst unbeeinträchtigten Alltag zu führen."
Epilepsie-Beratung Niederbayern:
Kinderkrankenhaus SanktMarien in Landshut mit Sprechtagin Straubing
Kinderklinik Dritter Orden in Passau, mit Sprechtag in Mainkofen;epilepsieberatung-niederbayern.de
Erste Hilfe bei Epilepsie
Auf die Uhr sehen: Den Anfall genau beobachten und dabei die Zeit im Blickhaben. Ein Anfall dauert zwischen einer und drei Minuten.
Gefährliche Gegenstände entfernen: Brille abnehmen, spitze und kantigeGegenstände wegräumen sowie etwas Weiches unter den Kopf legen.
Betroffene aus dem Gefahrenbereich (Straße, Wasser, etc.) holen.
Nicht versuchen, die Arme oder Beine des Betroffenen festzuhalten.
Nicht versuchen, den Kiefer zu öffnen oder gewaltsam Gegenstände zwischendie Zähne zu schieben. Auch eine Beatmung ist nicht nötig.
Beengte Kleidung lockern. Sobald als möglich, den Betroffenen in die stabileSeitenlage bringen und vor Unterkühlung schützen.
So lange bei dem Betroffenen bleiben, bis er wieder vollständig orientiert ist.
Den Notarzt alarmieren.