Digitale Therapie aus München

Wenn der Psychotherapeut online hilft


Therapie kann heutzutage auch vor dem Bildschirm stattfinden.

Therapie kann heutzutage auch vor dem Bildschirm stattfinden.

Von Laura Meschede

In der Pandemie haben viele Psychotherapeuten auf Online-Therapie umgestellt. Andere, wie das Programm "MindDoc" aus München, bieten sie bereits seit Jahren an. Kann das funktionieren?

"Ein bisschen Kreativität", sagt Bernhard Backes, "gehört auf jeden Fall dazu." So wie kürzlich bei der Frau mit der Angststörung, die lernen sollte, Bahn zu fahren. Konfrontation durch Ausprobieren, alleine, die Therapeutin auf dem Smartphone-Bildschirm.

Um die Frau jedoch nicht in die unangenehme Situation zu bringen, neben den anderen Fahrgästen ihre Situation beschreiben zu müssen, leitete die Therapeutin sie über das Headset an: "Stehen andere Menschen am Eingang der Bahn? Ja? Dann gehen Sie doch jetzt mal an ihnen vorbei."

Bernhard Backes

Bernhard Backes

Gut funktioniert habe das, sagt Backes. Nur: Um über das Smartphone eine Verbindung zwischen Patient und Therapeut herzustellen, braucht es Netz. Und das ist in den Zügen der Deutschen Bahn Mangelware. Also zogen die beiden auf das Telefon um. Da war die Verbindung zwar auch nicht ideal. Aber, so Backes: "Für den Zweck hat es gereicht."

Virtuelle Uni-Seminare, Geburtstagsfeiern auf Zoom, Konferenzen in Jogginghose. Die vergangenen zwei Jahre haben deutlich gemacht: keine zwischenmenschliche Aktivität, die sich nicht irgendwie auf einen Computerbildschirm verlegen ließe. Auch viele psychotherapeutische Praxen haben in der Pandemie auf "online" umgestellt. Aber: Kann eine Videokonferenz wirklich das persönliche Gespräch mit dem Therapeuten ersetzen?

"Ja", sagt Bernhard Backes. "Wenn auch nicht bei jedem." Backes leitet das Programm "MindDoc" der Münchner Schön-Klinik. Schon 2017, zwei Jahre vor Beginn der Pandemie, hat die private Klinikgruppe begonnen, Online-Therapiestunden anzubieten. Verhaltenstherapie, zunächst spezialisiert auf Essstörungen und Depressionen, seit 2020 auch im Bereich der Angst- und Zwangsstörungen.

Online-Therapie ist nichts für jeden

Das Prinzip der Online-Therapie ist einfach: Nach einem persönlichen Erstgespräch treffen die Patienten ganz normal in regelmäßigen Abständen einen Therapeuten. Nur eben online statt persönlich.

"Natürlich ist das nicht für jeden Menschen geeignet", sagt Backes. "Menschen mit einer hohen Impulsivität zum Beispiel nehmen wir bei MindDoc nicht auf." Zu groß sei etwa die Gefahr, dass der Patient die Therapiestunde einfach mit einem Klick beendet, wenn sie ihm zu emotional wird.

Auch für Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Sucht-Problemen ist die Online-Therapie nicht die richtige Wahl. "Ob beispielsweise der Atem eines Patienten nach Alkohol riecht, lässt sich nämlich nun mal online nicht feststellen", sagt Backes. Das persönliche Erstgespräch diene auch dazu, ebendiese Fragen mit den Patienten zu klären und dann zu entscheiden.

Von diesen Einschränkungen einmal abgesehen, habe sich die Online-Therapie jedoch bislang eindeutig bewährt. "Gerade für Menschen, die beruflich mal für einige Zeit ins Ausland müssen oder die in einem kleinen Dorf leben, kann die Online-Therapie die einzige Möglichkeit sein, regelmäßig zu ihren Therapiesitzungen zu erscheinen", sagt er. "Und verschiedene Studien zeigen: Die Wirksamkeit von Online- und persönlicher Therapie unterscheidet sich nicht wirklich."

Tatsächlich gehört die Video-Therapie in verschiedenen europäischen Ländern bereits zur Regelversorgung, so beispielsweise in Großbritannien und den Niederlanden. Die Deutsche Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV) ist allerdings dennoch nicht überzeugt von dem Ansatz. "Natürlich sind wir froh, dass es während der Pandemie die Option gab, Therapiestunden online abzuhalten, die sonst gar nicht hätten stattfinden können", sagt der Vorsitzende der DPtV, Gebhard Hentschel. "Aber wir sehen die Videobehandlung nur als Ergänzung, nicht als Ersatz für die persönliche Therapie."

Seine wichtigste Kritik: Bei Programmen wie MindDoc bekommt man erst nach dem Erstgespräch seinen Therapeuten vermittelt. "Das bedeutet, man kann das Erstgespräch nicht dazu nutzen, ein Vertrauensverhältnis zu seinem Therapeuten aufzubauen", sagt Hentschel. "Und die gesamte Therapie findet bei einem Therapeuten statt, den man noch nie persönlich getroffen hat." Diese Tatsache berge die Gefahr der Kommerzialisierung der Psychotherapie.

Wird die psychologische Hilfe für Menschen durch die Online-Therapie zur kommerziellen Fließband-Behandlung? Die Münchner Schön-Klinik gehört auf jeden Fall zu den größten privaten Klinikgruppen in Deutschland. 13,3 Millionen Euro wies ihre Bilanz für das erste Halbjahr 2021 aus.

Nutzer kommen nicht nur aus Generation Smartphone

In dem Online-Therapie-Programm MindDoc sind aktuell knapp 2700 Patienten bei rund 130 Therapeuten in Behandlung. Hentschel sagt, die reine Online-Therapie sei besonders dann eine Gefahr, wenn sich der Zustand eines Patienten plötzlich verschlechtere - und er dann doch dringend einen persönlichen Kontakt bräuchte. "Dann muss er seinen Therapeuten wechseln, hin zu jemandem in seiner Nähe - ausgerechnet in so einer Situation", kritisiert er.

Bernhard Backes von MindDoc sagt, theoretisch gebe es durchaus die Möglichkeit, den Therapeuten persönlich zu treffen - auch wenn das vielleicht mit etwas längeren Fahrtzeiten verbunden sei. Bislang sei dieser Wunsch vonseiten der Patienten jedoch nicht sehr häufig aufgekommen.

Dass die Online-Therapie zunehmend an Beliebtheit gewinnt, liegt sicher auch daran, dass Therapieplätze rar sind. Anfang des Jahres ergab eine Umfrage unter Psychotherapeuten, dass Kassenpatienten im Schnitt sechs Monate auf einen Therapieplatz warten müssen. Online-Therapien wie von MindDoc verkürzen diese Wartezeiten: Weil Patienten an den nächsten freien Therapeuten verwiesen werden können, auch wenn er am anderen Ende der Republik lebt, sind die Wartezeiten hier sehr gering.

Die Mehrzahl der Nutzer von MindDoc stammt dementsprechend nicht notwendigerweise aus der Generation Smartphone: "Unsere Patientenstruktur entspricht dem Durchschnitt", sagt Backes. "Am häufigsten begeben sich Frauen mittleren Alters in Therapie - und sie bilden auch die Mehrheit unserer Nutzer."

Auf der einen Seite besteht die Gefahr der Kommerzialisierung, auf der anderen der Mangel an Therapieplätzen: Letzten Endes, so scheint es, hat das Für und Wider der Online-Therapie mit Fragen der Technik erstaunlich wenig zu tun.