Das Wissen um das Ende
Tödliches Erbe: Cathérine hat die Huntington-Krankheit
9. Mai 2024, 19:00 Uhr
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Im Video erzählt idowa-Redakteurin Simona Cukerman wie die Geschichte hinter diesem Türchen entstanden ist.
Video zum Thema:
Sie weiß, wie alles enden wird. Die Frage, die bleibt, ist Wann. Auf dem Weg zu ihrem Ende wird sie torkeln, zucken, schimpfen, um sich schlagen. Sie wird Taubheit spüren, in ihren Händen, ihren Beinen. Wie die Klavierakkorde, die Cathérine einst gespielt hat, wiederholt sich das CAG in ihrem Kopf. Bis sie eines Tages alles vergisst.
Cathérine, 52, ihre grauen Haare zu einem Dutt zusammengebunden, hat die Huntington-Krankheit: ein tödlicher Gendefekt, den ihre Mutter ihr vererbt hat. Ursache ist eine Mutation der DNA-Bausteine CAG im Huntington-Gen. Ab 40 CAG-Wiederholungen steht diese unweigerlich mit Krankheitssymptomen in Verbindung: zittern, schimpfen, torkeln. Irgendwann können die Erkrankten gar nichts mehr. Sich nicht bewegen, nicht sprechen, auch nicht lächeln. Dann sterben sie.
Heute hat Cathérine einen guten Tag, kann von ihrem Leben erzählen, zuckt kaum. Und doch ist da immer dieses Gefühl bei ihr: "Angst hab' ich schon. Ich habe das Ende bei meiner Mama gesehen." Sie war 18 Jahre lang krank. Die Bilder, wie sie im Bett lag und die Krankheit schleichend Besitz von ihrem Körper nahm, wie sie wie besessen gezuckt hat, bekommt Cathérine nicht mehr aus ihrem Kopf.
Was sie noch mehr belastet? Die Frage, ob sie die Krankheit an ihre Kinder vererbt hat.
Während Cathérine von ihnen spricht, wird ihre Stimme ganz weich. Als versuche sie mit jedem Satz zu beweisen, dass sie niemandem etwas Böses wollte.
Beide Kinder sind mittlerweile um die 30 Jahre alt. Cathérine bekommt aber nur wenig von ihnen mit. "Ein paar Mal im Jahr hör' ich was von ihnen." Wenn sie was braucht, kümmert sich ihre Tochter darum. Ob sie ihr böse sind, weiß Cathérine nicht. "Ich kann ja nichts dafür", sagt sie, schließt kurz ihre Augen. Als Cathérine von der Huntington-Krankheit ihrer Mutter erfährt, ist ihr Jüngster zwei Jahre alt.
Wenn das Ergebnis da ist, ist man nur noch die Krankheit
Im Nachhinein fiel Cathérine auf, dass ihre Mutter schon früher angefangen hatte sich zu verändern. Sie versprach sich öfter, verwechselte Wörter. Etwas später führte sie Bewegungen mehrfach aus, obwohl das keinen Sinn ergab. Sie griff vier Mal zur Gabel, schüttete sich sechs Mal Zucker in den Kaffee, fuhr sich acht Mal durch die Haare. Als Cathérines Kinder alt genug sind, erzählt sie ihnen, was in ihr schlummert - und vielleicht auch in ihnen. Denn die Wahrscheinlichkeit der Vererbung ist 50:50. Sie wollten sich nicht testen lassen. Wollten nicht wissen, welches Ende sie erwartet. "Ich kann's verstehen." Sobald das positive Ergebnis da ist, ist man nur noch die Krankheit. "Der Mensch, der man war, der man eigentlich ist, wird vergessen."
War es ein Fehler, vor rund 30 Jahren zum Arzt zu gehen? "Nein, ich musste es wissen. Für die Kinder - ob sie es auch haben könnten."
Cathérine steht auf, geht mit langsamen, kurzen Schritten auf den Balkon zu. Setzt sich auf einen Stuhl. Beim vierten Versuch erwischt sie die Zigarette mit dem Feuerzeug. Atmet ein, atmet aus. Die Diagnose nahm Cathérine nicht nur ihren Körper, sie beschlagnahmte ihr gesamtes Leben. Deswegen will sie auch nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen. Ihr Ehemann wollte die Trennung. Ihr Bruder zog sich zurück. Sein Test fiel negativ aus. "Vielleicht konnte er damit nicht umgehen, dass ich krank bin und er gesund", sagt sie. "Ich nehme ihm das nicht übel." Ein Lächeln, das sie versucht, gelingt ihr nicht. Cathérines Schicksal ist beispielhaft für Huntington-Erkrankte, sagen Experten. Die Diagnose löse durch ihre Vererbbarkeit oftmals einen Schock in der Familie aus. Die zur Gewissheit werdende Vermutung, dass man selbst so enden könnte, nagt an ihnen.
Cathérine verlor ihren Job als Krankenschwester und konnte auch ihren Nebenjob als Klavierlehrerin nicht mehr ausüben. Untersuchungen im Krankenhaus und ihre kranke Mutter haben ihre gesamte Zeit gefressen. Geld hat gefehlt "und ich landete auf der Straße".
Sobald Menschen von der Diagnose erfahren, wollen viele von ihnen sterben
Seit fünfeinhalb Jahren wohnt Cathérine in der Huntington-Abteilung bei den Barmherzigen Brüdern in Algasing (Landkreis Erding). Hier hat sie ein Bett, was zu essen, ein Dach über dem Kopf und Menschen, die sich um sie sorgen.
Aber auch Mitbewohner, die denselben Gendefekt in sich tragen wie sie. Cathérine sieht täglich, wie es in nur wenigen Monaten um sie stehen könnte. Die Schübe kommen oft schlagartig, unvorhersehbar.
Sobald Menschen erfahren, dass sie am unheilbaren Huntington leiden, das allmählich das Gehirn zerstört und innerhalb zehn bis 20 Jahren tötet, davor noch depressiv und dement macht, die Persönlichkeit verändert, zu tänzelndem Gang, grotesken Zuckungen und unwillkürlichen Bewegungen führt, wollen viele sterben. Suizid ist eine der häufigsten Todesursachen bei Huntington, heißt es.
Cathérine ist stark geblieben. In manchen Momenten erzählt sie, dass das Wissen um ihr Ende sie geerdet hat. Dass Geld nicht so wichtig ist. Dass sie dankbarer ist. Dass sie jeden Augenblick ihres Lebens intensiv genießt. Vor allem, wenn sie dazu Musik hören kann.
Dann sind da aber noch andere Momente, in denen das Hintergrundbrummen zu einem Dröhnen wird. In denen das CAG immer lauter surrt. Nicht so schön klingt, wie die Klavierakkorde, die sie einst gespielt hat. In denen sie Angst hat. Ob es eine schrecklichere Krankheit gibt als diese hier? Sie kann sich keine vorstellen. Sie hat gesehen, wie es endet; kann nichts dagegen tun. Und zu 50 Prozent hat sie es an ihre Kinder vererbt. "Das Schlimmste, was man einem Menschen sagen kann, ist, dass er seine Kinder krank gemacht hat. Vielleicht habe ich das."
Hintergrund: Die Huntington-Krankheit
Die Huntington-Krankheit (HK) ist dominant vererbbar und ist relativ selten. Chorea Huntington schädigt in einem schleichenden Prozess allmählich den Körper und insbesondere das Gehirn. Auffällig sind die unwillkürlichen Überbewegungen ("Chorea" - das griechische Wort für Tanz), die zunächst an eine gesteigerte Nervosität denken lassen. Später, wenn auch der Gang beeinträchtigt ist, erinnern sie an Trunkenheit. Auch die Denkabläufe werden zunehmend starrer, bis hin zur Demenz. HK-Erkrankte haben meist eine Antriebsschwäche. Auch steigt bei den meisten die Neigung zu Wutausbrüchen.
Ob und wann HK ausbricht, hängt von den CAG-Wiederholungen der DNA-Bausteine eines Menschen ab: Je höher die Anzahl der Wiederholungen, desto früher treten Krankheitssymptome auf. Das lässt sich molekulargenetisch untersuchen - stellt Genträger allerdings auch vor eine große moralische Frage: Möchte ich es überhaupt wissen, dass ich krank bin und wie mein Leben endet?
Die Dauer der Krankheit nach ihrem Ausbruch liegt bei etwa zehn bis 20 Jahren. Als Todesursache werden oft Entkräftung bei Ernährungsschwierigkeiten mit Gewichtsverlust und Komplikationen der Schluckstörungen und Bettlägerigkeit wie Lungenentzündungen angegeben. Darüber hinaus sterben Menschen mit HK häufig auch aus eigenem Entschluss.