Passivtrinken
Tausende Babys mit Behinderung
19. März 2019, 20:49 Uhr aktualisiert am 19. März 2019, 21:23 Uhr
Auch Nicht-Trinker leiden in vielen Fällen unter den Folgen von Alkoholkonsum: Im Straßenverkehr verursachen betrunkene Autofahrer tödliche Unfälle, bei Gewalttaten spielt oft Alkohol eine Rolle - und trinkende Mütter schädigen ihre ungeborenen Kinder. Mit dem "Passivtrinken" befasst sich eine Studie des Münchner Instituts für Therapieforschung (IFT), die am Dienstag im Fachmagazin "BMC Medicine" veröffentlicht wurde. Die Wissenschaftler um Ludwig Kraus schätzten auf Grundlage von internationalen Übersichtsstudien, dass im Jahr 2014 in Deutschland 12 650 Babys mit einer Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) zur Welt kamen, darunter knapp 3000 mit einem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) als volle Ausprägung der Störung. Die Kinder sind teils kleinwüchsig und haben Fehlbildungen im Gesicht. Ihre motorischen Fähigkeiten sind eingeschränkt, sie zeigen Störungen im Verhalten, bei den Gedächtnisfunktionen, bei der Konzentration und Lernfähigkeit. Alkoholkonsum stelle auch für unbeteiligte Dritte eine Gefahr dar, folgert Kraus. "Das ist analog zum Passivrauchen." Weil viele Eltern Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes nicht mit dem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft verbinden, sei die Dunkelziffer extrem hoch, ergänzte Olaf Neumann, Chefarzt der Frauenklinik an der München Klinik Schwabing. Betroffene kämpften oft ein Leben lang mit den Folgen. Es gebe trotz vieler Studien keinen wissenschaftlich belegten Wert, bis zu dem Alkohol in der Schwangerschaft unschädlich sei. "Deswegen müssen wir davon ausgehen, dass auch das "Ausnahmeglas Wein im Monat" schon schaden kann. Ich persönlich plädiere deshalb stark für die 0,0 Promille-Grenze." Trinke die Mutter Alkohol, trinke das Ungeborene stets mit. "Durch die Nabelschnur gelangt der Alkohol direkt in den Blutkreislauf des Kindes, Mutter und Kind haben dann denselben Alkoholspiegel - das ungeborene Kind sogar länger, da es den Alkohol nicht so schnell abbauen kann", sagte Neumann. Die Münchner Forscher hatten neben den internationalen Übersichtsstudien eine Untersuchung des Robert Koch-Instituts in Berlin ausgewertet, die auf Befragungen von Müttern beruhte. Demnach wurden von 10 000 Kindern 177 mit FASD geboren. Das rechneten die Forscher auf die Zahl von 715 000 Geburten in Deutschland um. "Für Deutschland wurden die Zahlen bisher unterschätzt", sagte Kraus. Dabei seien FAS und FASD nicht einmal die einzigen möglichen Folgen des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft. Die Zahl der Betroffenen sei schwer zu erfassen, da die Entwicklungsschädigungen oft erst später festgestellt würden. Da die Erkrankungen nicht meldepflichtig seien, gebe es keine Statistiken. "Es gibt viele FAS- oder FASD-Fälle, die nicht erkannt sind. Viele Kinder haben die Störungen, aber sie sind nicht als diese Störungen diagnostiziert", sagte Kraus. Es sei zwar nicht von steigenden Fallzahlen auszugehen, da der Alkoholkonsum in Deutschland eher abnehme, sagte Kraus. Dennoch forderte er mehr Prävention. Für alkoholisierte Autofahrer müsse es empfindlichere Strafen geben, sagte Kraus weiter. Verkehrskontrollen müssten intensiviert werden. Von 2675 Menschen, die 2014 unverschuldet im Straßenverkehr starben, wurden 1214 Opfer von Alkoholfahrten, meist als Beifahrer oder Fußgänger. Auch Gewalttaten würden vielfach unter Alkoholeinfluss begangen. Von 368 Tötungen waren in 55 Fällen die Täter alkoholisiert. In Fällen, in denen Täter schon als gewaltbereit bekannt seien, könne mit Therapie Prävention betrieben werden, damit sie auch unter Alkoholeinfluss gewaltfrei bleiben können. Maßnahmen wie die Preispolitik oder die Beschränkung der Vermarktung von alkoholischen Getränken seien unpopulär, würden aber helfen, die Schädigung Dritter zu reduzieren. Letztlich komme das auch den Trinkern selbst zugute. Alkoholmissbrauch sei weltweit die vierthäufigste Ursache für Erkrankungen und Todesfälle. Missbräuchlicher Alkoholkonsum erhöhe das Risiko für zahlreiche Krebsarten.
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