Bayern

Tasten und Hören im Museum

Verena Bentele (41) ist Präsidentin des größten Sozialverbandes mit über zwei Millionen Mitgliedern und blind. Wie erlebt die frühere Biathletin einen Besuch im Deutschen Museum? Die AZ war dabei.


So ein Kindertastbuch hätte Verena Bentele als Kind auch gern gehabt. Die VdK-Präsidentin liest mit den Fingern.

So ein Kindertastbuch hätte Verena Bentele als Kind auch gern gehabt. Die VdK-Präsidentin liest mit den Fingern.

Von Nina Job

München - Die berühmten Sonnenblumen von van Gogh, millionenfach kopiert, in Katalogen, auf Postern, Postkarten und Kaffeetassen abgebildet - Verena Bentele hat sie noch nie gesehen. Die 41-jährige frühere Paralympics-Spitzensportlerin und Präsidentin des Sozialverbandes VdK, ist seit ihrer Geburt blind. Verena Bentele kann nur hell und dunkel unterscheiden. Von Farben hat sie ihre ganz eigene Vorstellung. "Ich assoziiere Farben mit Gegenständen", erzählt sie der AZ. Gelb zum Beispiel mit Sonnenblumen.

Auch gestern kann Verena Bentele bei einer Führung durchs Deutsche Museum die Kopien von mehreren Sonnenblumenbildern des berühmten niederländischen Malers an den Wänden nicht sehen. Trotzdem hat sie nach dem Besuch eine andere Vorstellung von dem Gemälde.

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So ein Kindertastbuch hätte Verena Bentele als Kind auch gern gehabt. Die VdK-Präsidentin liest mit den Fingern.

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Das kleine a in verschiedenen Schriftarten: Das lässt sich im Deutschen Museum ertasten.

Bentele steht in der Ausstellung "Bild, Schrift, Codes" und tastet mit allen zehn Fingern über ein Bronzerelief. Es macht den Aufbau des Sonnenblumenbildes für sie im wahrsten Sinne des Wortes greifbar. "Das ist toll. Jetzt kann ich das gut übertragen, was im Vordergrund und was im Hintergrund ist", sagt sie gut gelaunt.


Ein Museum, das allen Menschen Wissen vermittelt, auch denjenigen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, die schlecht hören oder sehen oder anders eingeschränkt sind - das ist auch 2023 noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Erst vor Kurzem war Verena Bentele in der Pinakothek der Moderne in der Ausstellung "Das Fahrrad. Kultobjekt, Designobjekt". Ihre Enttäuschung war groß. "Ich fahre total gern Fahrrad, aber es war wirklich blöd. Man durfte überhaupt nichts berühren", ärgert sie sich. "Wenn ich nur von den Erklärungen meiner Freunde lebe, ist das nicht befriedigend."

Im Deutschen Museum war das früher auch nicht besser. Am 7. Mai 1925, als das Museum zum 70. Geburtstag von Oskar von Miller eröffnet wurde, waren Worte wie "barrierefrei" oder "Inklusion" noch nicht mal erfunden.

Erklärungen in Braille- oder Blindenschrift suchte man auch bis in die 2000er Jahre vergeblich. Und Rollstuhlfahrer scheiterten an Treppen.

Das ist heute anders. Die neu gestalteten 19 Ausstellungen, die im vergangenen Sommer eröffnet wurden, sind inzwischen alle barrierefrei: Per Aufzug, Rampe oder Hublift kommen die Besucher in die verschiedenen Ebenen.

Sogenannte Tastmodelle gibt es bislang etwa 60: vom Bronzerelief mit Sonnenblumen über Mini-Flugzeugmodelle oder Traktoren aus dem 3-D-Edelstahldrucker bis hin zu Knochenschrauben, die heute bei komplizierten Brüchen verwendet werden. Alles darf ausgiebig berührt werden - sowohl von Menschen, die Probleme mit dem Sehen haben als auch von allen anderen.


Verena Bentele ist bei ihrem Rundgang fasziniert von Holzmodellen der menschlichen Gelenke und von einem Wasserflugzeug. "Ich hab mir sowas nie vorstellen können. Toll, wenn man das anfassen kann", sagt sie begeistert.

Auch Erklärtafeln in Blindenschrift finden sich teilweise
in den Ausstellungsräumen. Und es werden Führungen in Gebärdensprache angeboten. Eine kostenlose Museumsapp, die sich jeder aufs Smartphone laden kann, liefert zudem Erklärungen zum Anhören. "Wir legen Wert darauf, dass wir ein Haus für alle sind", betont Generaldirektor Wolfgang Heckl.

Ganz am Ende ihrer Führung trifft Verena Bentele noch auf Ralf Spicker, den Kurator des Kinderreichs. Er zeigt ihr ein Buch, das eigens von einem Museumsteam für kleine Besucher entwickelt und in den hauseigenen Werkstätten angefertigt worden ist. "Oh Schreck, Elise ist weg" heißt das Tastbuch und handelt von einer Eule, die auf der Suche nach ihrer Freundin, dem Schaf Elise, ist.

Verena Bentele ist begeistert. "Wahnsinn, wie schön und filigran das gemacht ist!" Sie verfolgt die Suche der Eule über die liebevoll gestalteten Seiten, dreht an einem kleinen Rad, das ein Mini-Wasserrad darstellt. "Als ich ein kleines Kind war, gab es fast nichts. Das war ein großes Manko."

Die Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes mit 2,2 Millionen Mitgliedern lobt die Anstrengungen des Museums sehr. "In den letzten Jahrzehnten waren viele Menschen von kulturellen Angeboten ausgeschlossen. Es ist ein richtiger und wichtiger Schritt, das Deutsche Museum hat ordentlich nachgelegt. Aber es gibt noch extrem viel zu tun. In ganz Bayern. Da muss die bayerische Staatsregierung ran."