Bluttat bei Regensburg
Prozess um ICE-Messerattacke: Zeugen psychisch belastet
3. November 2022, 16:00 Uhr aktualisiert am 7. April 2023, 17:33 Uhr
Völlig wahllos soll ein damals 27-Jähriger am 6. November 2021 in einem Zug zwischen Regensburg und Nürnberg auf Mitreisende eingestochen und Panik verbreitet haben. Vier Menschen erlitten schwere bis lebensgefährliche Verletzungen. Die Ermittler gehen von einer islamistisch-extremistischen Tat aus. Knapp ein Jahr haben am Donnerstag zahlreiche Augenzeugen ausgesagt - sie leiden noch heute.
Der Tatverdächtige lebte früher in Syrien und kam 2014 nach Deutschland. Kurz vor der Tat soll der in Niederbayern Wohnhafte seinen Arbeitsplatz verloren haben. Am 6. November 2021 stieg er in den ICE Passau - Hamburg und soll wahllos auf Reisende eingestochen haben. Laut Anklageschrift näherte er sich einem sitzenden Fahrgast von hinten und stach ihm mit einem Taschenmesser mit einer Klingenlänge von 8,5 Zentimeter achtmal kräftig in den Kopf-, Hals- und Brustbereich. Einem weiteren Fahrgast stach er mit voller Wucht in den Kopf. Einem dritten Mann, der helfen wollte, schnitt er an der Stirn und am rechten Armrücken. Anschließend lief er in den nächsten Wagen und stach einem Reisenden achtmal kraftvoll in den Kopf, Brust- und Bauchbereich. Nach der Tat hatte der ICE einen außerplanmäßigen Zwischenstopp im Landkreis Neumarkt in der Oberpfalz gemacht. Polizisten durchsuchten den Zug und nahmen den mutmaßlichen Täter fest. Die männlichen Opfer zwischen 26 und 60 Jahren erlitten schwere bis lebensgefährliche Verletzungen.
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Nach der Tat sagte der Tatverdächtige laut Anklageschrift, dass er psychisch krank sei. Er wurde am 7. November 2021 in das Bezirksklinikum Regensburg eingewiesen. In der Einrichtung soll er am 20. Dezember 2021 aus radikal-islamischen Motiven einen Pfleger mit der Hand mehr als einmal schmerzhaft ins Gesicht geschlagen haben. Am 3. Januar 2022 rastete er wieder aus. In seinem Isolierzimmer soll er einen Fensterflügel so oft gegen die Wand geschlagen haben, bis die Sicherheitsscheibe splitterte und sich zwei Metallstangen lösten. Anschließend zerstörte er noch das Glas der Schleusentür.
Der Angeklagte habe eine "radikal-islamistische Überzeugung"
Bundesanwältin Silke Ritzert hatte bei Prozessbeginn vor rund zwei Wochen verlesen, der Beschuldigte habe eine "radikal-islamistische Überzeugung". Mit der wahllosen Tötung von Nicht-Muslimen habe er einen Beitrag zum weltweiten Dschihad leisten wollen - dies habe er mit der Messerattacke in dem ICE in die Tat umsetzen wollen. Deshalb befindet sich der Angeklagte seit 21. Januar 2022 in Haft.
Aus Sicht der Verteidigung ist dagegen eine zentrale Frage, ob es sich bei dem Mann wirklich um einen Dschihadisten handle - und wie dessen psychischer Zustand zum Zeitpunkt der Tat einzuschätzen sei. Dazu gebe es mehrere Gutachten, die sich jedoch inhaltlich teils massiv widersprächen, hatte einer der Verteidiger bereits vor Prozessbeginn erklärt. Zum Prozessauftakt waren deshalb auch vier psychiatrische Sachverständige erschienen. Der Angeklagte selbst hatte sich zunächst nicht zu den Tatvorwürfen geäußert.
Die Verlesung der Anklageschrift hatte sich zunächst verzögert, weil der Angeklagte, der aktuell mit Psychopharmaka behandelt wird, über Müdigkeit klagte und deshalb untersucht werden musste. Die Sachverständigen erklärten ihn aber für verhandlungsfähig.
Augenzeugen berichten von psychischen Belastungen
Zahlreiche Augenzeugen haben am Donnerstag im Prozess gegen den mutmaßlichen Täter ausgesagt. Mehrere der damals Anwesenden berichten vor dem Oberlandesgericht München von ihren andauernden psychischen Belastungen, ausgelöst durch die blutige Attacke vor einem Jahr. "Ich war in Therapie, konnte lange nicht arbeiten", sagte etwa eine 18-Jährige. Zugfahren könne sie seit dem Vorfall nicht mehr. Eine andere Zeugin sprach von Schlafstörungen und Panikattacken.
Die Augenzeugen malten bis auf kleine Abweichungen ein einheitliches Bild der Geschehnisse im ICE. Es sei ruhig im Großraumwaggon gewesen, sagten sie, bevor sie plötzlich durch Schreie auf den Angriff aufmerksam wurden. Ein Mann habe im Gang gestanden und einen sitzenden Mitreisenden attackiert - mit Faustschlägen, vermutete ein Großteil der Anwesenden nach eigenen Angaben zunächst. Die Messerklinge in der Hand des Täters hätten sie erst später gesehen.
Ein älterer Passagier sei eingeschritten, woraufhin der Täter in Richtung des nächsten Wagens weitergegangen sei. Kurz vor der Tür habe er noch einen weiteren Mitreisenden angegriffen, bevor er in den angrenzenden Wagen verschwunden sei. Unter den Passagieren sei Panik ausgebrochen, berichtete eine Zeugin. Viele von ihnen seien in die entgegengesetzte Richtung des Angreifers geflohen.
Opfer überzeugt: "Angreifer wollte mich umbringen"
Ein Opfer der Messerattacke hat nach eigener Einschätzung nur mit Glück überlebt. "Ich bin überzeugt, dass mich der Angreifer an diesem Tag umbringen wollte", sagte der Zeuge am Freitag vor dem Oberlandesgericht München im Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Dieser soll dem 27-Jährigen unvermittelt mit einem Messer acht Stiche in den Kopf-, Hals- und Brustbereich versetzt haben, bevor er noch drei weitere Menschen angriff und zwei davon schwer verletzte.
Dieses Erlebnis sei "etwas, das man nie wieder vergisst. Diese Erfahrung kann man nicht ablegen - das ist jetzt ein Teil von mir", sagte der Zeuge, der sich mit Tritten gegen die Attacke wehrte. Ein Großteil seiner schweren körperlichen Verletzungen sei heute verheilt, doch psychisch belaste ihn der Vorfall noch immer. Er verlasse an manchen Tagen ungern das Haus, fahre seit dem Vorfall nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sehe in anderen Menschen eine Gefahr: "Man weiß nicht, ob der Nächste nicht auch ein Messer in der Tasche hat."
Der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter Abdalrahman A. hatte vor rund zwei Wochen begonnen. Die Anklage wirft ihm nach der blutigen Attacke vom 6. November 2021 unter anderem versuchten Mord und gefährliche Körperverletzung vor. Das Oberlandesgericht hatte zu Prozessbeginn zunächst 24 Verhandlungstage bis zum 23. Dezember 2022 angesetzt.