Bayern
Menschliches Krötentaxi
24. März 2023, 19:05 Uhr aktualisiert am 24. März 2023, 19:05 Uhr
Es ist 19 Uhr und gerade dunkel geworden am Perlacher Forst. Christiane Hartmann läuft dicht an dem kniehohen Zaun entlang. Die dicke grüne Plane säumt ein Stück Waldrand. Der erste Fund ist ein olivgrün-geschecktes Tier, nicht wesentlich größer als eine Streichholzschachtel. "Es ist eine Erdkröte, wie sie hier und auch allgemein in Deutschland am häufigsten vorkommt”, sagt Christiane Hartmann. Die 64-Jährige ist Krötenhelferin vom Bund Naturschutz.
Im März, wenn die Temperaturen mehrere Tage nicht unter null Grad sinken, verlassen die Erdkröten ihre Winterquartiere im Wald und wandern zum Ablaichen zu ihren Teichen.
Vier Freiwillige sind an diesem Dienstag in Harlaching im Einsatz. Sie leuchten die Rückseite des Schutzzauns ab. Halten Ausschau nach Wanderern und Doppeldeckern. "Die sehen wir vielleicht gleich noch", sagt Christiane Hartmannn. Ihre Warnweste leuchtet gelb in die Dunkelheit, der Strahl ihrer Stirnlampe huscht über den Asphalt.
Behutsam hebt die 64-Jährige die kleine Kröte vor ihren Stiefeln auf ihre flache Hand. "Die zarte, kühle Haut fühlt sich eigentlich angenehm an", sagt sie. "Gar nicht schleimig oder eklig, wie viele das denken". Es ist ein Männchen, das sieht sie sofort. Denn bei den Erdkröten seien Weibchen deutlich größer. Der Kröten-Mann sitzt still auf ihrer Handfläche. Die runden bernsteinfarbenen Augen glänzen im fahlen Licht. Erst nach ein paar Sekunden stößt er ein leises Quicken aus.
"Ja, ist gut", sagt Hartmann und beeilt sich, das Männchen auf die andere Straßenseite zu tragen. Dort setzt sie ihn auf dem Gehweg zwischen den Gartenzäunen ab. "Ich weiß ja nicht, wo er genau hin will." Die Kröten, die hier am Zaun landen, sind auf dem Weg in die Siedlung. Ihr Ziel sind die Gartenteiche. "Bei Erdkröten sind etwa 30 Prozent der Tiere laichgewässertreu", sagt Michael Schweimanns. Der 72-Jährige ist Biologe und betreut den Arbeitskreis Amphibienschutz beim Münchner Bund Naturschutz. Etwa ein Drittel der Tiere kehrte also zum Eierablegen zurück zu dem Gewässer, aus dem sie selbst stammen. Dort, wo sie sich aus schwimmenden Kaulquappen zu wandernden Kröten entwickelt haben.
Doch die Wanderung kann lebensbedrohlich werden: Gerade, wenn sich zwischen Wald und dem bevorzugten Teich eine Straße befindet. Damit die Amphibien nicht massenhaft von Autos überfahren werden, braucht es Freiwillige wie Christiane Hartmann. "Im Frühjahr 2022 haben wir 911 Tiere gezählt und rüber getragen." Das meiste sind Erdkröten, vereinzelt fänden die Helfer aber auch Grasfrösche und Bergmolche. Im Vergleich zu den Vorjahren seien es weniger geworden. 2020 waren es noch 1200 Tiere. Die Trockenheit im Frühjahr macht auch den Kröten zu schaffen, weil sie zum Wandern Feuchtigkeit brauchen.
Die gelernte Physiotherapeutin hilft schon mehr als zehn Jahre beim Krötenschutz. Warum? "Ich hatte schon als Kind einen Teich im Garten und war fasziniert von den Tieren." Inzwischen koordiniert Hartmann die Schichten für über 30 Freiwillige am Perlacher Forst. Vier bis sechs Wochen sind jeden Abend Helfer im Einsatz. "Gerade bei größtem Schmuddelwetter ist am Zaun am meisten los", sagt Hartmann.
Jetzt läuft ein großer Mann auf sie zu. Stellt sich vor: "Gerfried Ambrosch". Auch der 42-Jährige trägt Warnweste und Taschenlampe, um von den Autofahrern gesehen zu werden. "Guckt mal, so ein großes Weibchen habe ich lang nicht gehabt." Auf seiner Hand sitzt nicht nur das Weibchen.
Wie ein Rucksack hat sich ein Kröten-Mann auf deren Rücken geschnallt. Für Christiane Hartmann ist das ein gewohnter Anblick. "Die haben einen sehr starken Klammerreflex." Ambrosch streicht dem Männchen vorsichtig über den Rücken. Das tritt sofort mit den Hinterbeinen nach hinten oben aus, als wollte es jemanden abwehren.
Viel mitzubestimmen, wen sie da auf dem Rücken chauffieren, hätten die Weibchen nicht, sagt Amphibien-Experte Schweimanns. "Für die Männchen ist es ein Vorteil, wenn sie schon bei der Wanderung ein Weibchen belagern." Denn am Teich angekommen, ist nicht sicher, ob sie noch ein freies finden. Leider setzten sie sich deshalb auch gern mal auf die Straße, für mehr Übersicht.
In ihrem großen Bauch tragen die Weibchen sogenannte "Laichschnüre", erklärt der Biologe weiter. Diese können aus 3000 bis 6000 Eiern bestehen. Wenn ein Paar den Teich erreicht, setzt das Weibchen die Schnüre im Wasser ab. Zeitgleich sondert das Männchen Spermien ab. "Die Befruchtung findet außerhalb des Körpers statt", sagt Michael Schweimanns. Anders als die Doppeldecker-Haltung vermuten lässt, sitzen die Männchen den Weibchen also nur deshalb im Nacken, um sie für sich zu beanspruchen.
Gerade für die Erdkröten-Weibchen ist die Reise eine große Anstrengung. Die Mehrheit tritt sie nur ein einziges Mal im Leben, zur Geschlechtsreife, an. Obwohl sie in der Natur bis zu 25 Jahre alt werden können. Ein Grund mehr, warum Christiane Hartmann die wabbeligen Vierbeiner mit den taumeligen Schritten so faszinierend findet.
Wer Amphibien helfen will, kann sich beim Bund Naturschutz informieren. www.bn-muenchen.de, Arten- und Biotopschutz
Sie sind gar nicht schleimig oder eklig
Die Männchen wollen sich einen Vorteil sichern